Eine Tasche voller Leben

„Eine Tasche voller Leben“

Porcupine Tree – Interview mit Steven Wilson

Quelle: Rock Hard Nr. 170 (07/2001)

Heute schmusiger Pop-Rock, morgen Black Metal – und dazwischen noch eine Prise norwegisches oder israelisches Songwriting. Porcupine Tree-Kopf Steven Wilson jettet förmlich zwischen den Musikstilen hin und her. Mal als Produzent, mal als Gastmusiker oder auch einfach nur für die eigene Band.

Seit die „Stachelschweine“ zur Oktober-Nachschlagtour von Dream Theater von deutschen Bäumen fielen (wat? – Red.), hat der Londoner das Publikum hierzulande so richtig lieb gewonnen. Am Rande des Essener Konzerts sprach er mit uns darüber, warum dieses Land lange Berührungsängste mit Porcupine Tree hatte.

Für Deutschland seit ihr so etwas wie Newcomer. Ist das nicht komisch, wenn man als Band eigentlich längst Staub angesetzt hat?

„Ja, die ganz große Aufmerksamkeit war bisher nicht da; unsere Fan-Basis ist mehr eine Graswurzelbewegung. Das ist verwirrend. In Holland hatten wir gute Kritiken, in Italien und Frankreich auch. Aber aus irgendeinem Grund wollte uns der größte Rockmarkt Europas nicht wirklich wahrnehmen. Ich weiß nicht genau, woran das lag. Vielleicht am fehlenden Profil unserer Plattenfirma KScope, die in Deutschland keinen Vertrieb hatte. Oder aber unser Musikstil entsprach einfach nicht dem deutschen Geschmack.“

Jetzt habt ihr in Deutschland einen neuen Vertrieb. Glaubst du, eine andere Plattenfirma hätte euch früher den nötigen Schub gegeben?

„Ja, vielleicht. Aber es war dann doch ermutigend, dass es überhaupt geklappt hat. Eins weiß ich: Wir litten darunter, dass wir keine Unterstützung einer großen Plattenfirma bekamen. Ich habe gerade auf einem Musikkanal in meinem Essener Hotel viele Bands gesehen. Glaub mir: Wir hätten es nicht weniger verdient als die, dort gespielt zu werden. Für Videoproduktionen hatten wir nur leider überhaupt kein Geld. Wir haben bisher nur einen Clip für „Piano Lessons“ produziert. Er wurde nirgendwo gezeigt, obwohl er meiner Meinung nach gut ist. Aber ich bin ja nicht naiv – auf diesen Sendern geht es in erster Linie um Sponsoring und Werbung.“

Und dann kommt ihr gleich mit einer Neuveröffentlichung von „Lightbulb Sun“ zurück. Anderen Bands macht man schon mal Vorwürfe, wenn die limitierte Version nach der offiziellen erscheint…

„Im Prinzip hast Du ja recht. Aber wir machten das aus zwei Gründen: Wir wollten auf der Tour etwas Neues vorlegen, und außerdem kennen einige Leute die Geschichte der Band überhaupt nicht. Die meisten Musikfreunde haben gar nicht mitbekommen, daß es Porcupine Tree seit über sechs Jahren bestehen, drei Alben als Band gemacht haben und davor noch weitere als mein Solo-Projekt. Also ist diese Doppel-CD mit dem normalen Album, einem Video und einer Discographie eine Art Einführung.“

Ohne deine dicke Tasche, die du immer bei dir trägst, kommst du auf Tour offenbar nicht aus. Was ist da drin? Schon die neue CD?

„Oh nein! Ich schleppe nur mein Leben mit mir herum. Das mit dem neuen Album stimmt auch nicht so ganz. „Buying New Soul“ ist von den „Lightbulb Sun“-Sessions übrig geblieben und wird auf dem Album „Recordings“ erscheinen (seit Mai erhältlich – d.Verf.). Diese CD ist hauptsächlich eine Sammlung von Songs, die wir bereits auf einer unserer elf Singles in England veröffentlicht haben. Du wirst von deiner Plattenfirma oft zu Singles gedrängt, damit noch mehr Geld verdient wird. Wir haben nur unter der Bedingung mitgemacht, den Fans dabei soviel zusätzliche Musik wie möglich zu geben. Das dadurch entstandene Material würde mittlerweile auf zwei weitere Studioalben passen. Also war diese Collection eine gute Gelegenheit, die Songs für die Nachwelt zu erhalten, bevor die Stücke mit den Singles für immer ausverkauft sind. Sechs unserer Lieblingssongs von den EPs und Singles sowie drei komplett unveröffentlichte Tracks haben es auf „Recordings“ geschafft.“

In welche Richtung geht es nach „Lightbulb Sun“?

„Wir werden viel härter werden!“

Interessant.

„Das hat mit Porcupine Tree an sich zu tun; damit, dass beinahe jedes Album für sich zu sehen ist. Wir verändern unseren Stil sehr schnell von Platte zu Platte. Gerade stilistisch haben wir mächtige Metamorphosen durchgemacht. Eigentlich ist es das Schlechteste, die Richtung total zu verändern, wenn du dir gerade ein Profil erarbeitest und auf bestimmte Art wahrgenommen wirst.

Das ist uns passiert, als wir den größten Stilbruch mit dem „Stupid Dream“-Album vollzogen haben. Das war die Platte mit dem größten Popsong-Faktor. Viele unserer alten Fans fanden das überhaupt nicht gut; wir haben viele verloren. Die Anklage lautete auf Ausverkauf. Wir hätten kapituliert, um uns einen größeren Markt zu erschließen. So etwas haben wir aber nicht nötig!

Ich kann mich selbst als Musikliebhaber bezeichnen. Ich habe einen riesigen Hunger auf neue Mucke und kaufe immer noch – ungelogen! – 50 CDs im Monat. Nur so entdecke ich jedes Mal neue Musik und lasse mich inspirieren. Auf sehr natürliche Weise schlägt sich das in unseren Songs nieder. Das kann gar nicht ausbleiben. Und nun habe ich in letzter Zeit eine Menge extremen Metal gehört – Bands wie Meshuggah, Opeth oder Black Metal aus Norwegen.

Das wird nie dazu führen, dass Porcupine Tree eine Death Metal-Band werden, aber der Einfluss macht sich natürlich bemerkbar. In den neuen Songs, von denen ich bereits mehr als zehn geschrieben habe, ist dies überdeutlich.

Auch „Lightbulb Sun“ und „Stupid Dream“ sind Kinder ihrer Zeit. Ich kann den Einfluss der Leute heraushören, die ich mir damals reinzog: Brian Wilson, Todd Rundgren, Crosby, Stills, Nash & Young. Es gibt viele Gesangsharmonien, die daher rühren. Deswegen passt wiederum der Progressive-Stempel nicht zu uns, weil ich zuletzt von vielen inspiriert worden bin – außer eben von Prog-Rockern.“

Steven Wilson ist längst nicht so engstirnig wie viele seiner Prog-Rock-Kollegen!